Soziologie als Sozioprudenz

Die Soziologie als Disziplin konstituiert sich aus verschiedenen, nicht aufeinander rückführbaren vorsoziologischen Traditionslinien: Neben den Genalogien aus der Sozialstatistik, der Sozialkritik, der Sozialreportage und der Gesellschaftsanalytik läuft zusätzlich durch die Soziologie hindurch eine lange vorsoziologische Denktradition der „Weltklugheit“. So gesehen wäre die Soziologie (immer auch) die akademische Hochschulung der „sozialen Intelligenz“ - die Soziologie lässt sich auch verstehen als das akademische Studium des „Umgangs mit Menschen“ (A. v. Knigge) differenziert nach Kontexten, Konstellationen und Klassifikationen. Diese Denktradition einer „Sozioprudenz“ als unwahrscheinlicher Kunst des Umgangs mit Menschen impliziert immer bereits nicht nur eine Sensitivität für verschiedene sozio-kulturelle Kontexte (also nicht nur: das 'Verstehen'), sondern auch ein kommunikatives Können des Umgangs mit Differenz (das 'Verhalten'). Die Stichworte für diese Denktradition sind Geselligkeit, Benehmen, Höflichkeit, Strategie, Taktik, Takt, Diplomatie, Manipulation, 'psychologische' Kriegsführung, Propaganda, Subversion, Kunst der Intrigen, Rhetorik (als antike, erste Sozialkunst kommunikativen Erfolges), Muster der Machtbildung und der Verführung.
Das Projekt einer Freilegung und kritischen Reflexion dieser "Sozioprudenz"-Erbschaft in der Soziologie stammt aus jüngeren Überlegungen, die Sozial- und Kulturwissenschaften als Disziplinengruppe neu zu definieren. Ein möglicher Schwerpunkt dieser Wissenschaftsgruppe wäre so gesehen auch die Hochschulung "sozialer Intelligenz" - in Abgrenzung zu den Naturwissenchaften (Schulung sachlich-technischer Intelligenz) und der Psychologie (Schulung intrapersonaler Intelligenz) (angelehnt an Howard Gardners Modell "multipler Intelligenzen"). Das Vorhaben umfasst zwei Schritte: eine historische Vergewisserung (1) und eine systematische Reflexion (2).
(1) In einer historischen Vergewisserung meint das die Freilegung eines bisher etwas verdeckten roten Fadens der Sozialwissenschaften - nämlich der Kunstlehre des Umgangs mit Menschen, die von den Renaissancedenkern Castiglione ("Der Hofmann") und Machiavelli ("Der Fürst") her, von der "Moralistik" (Gracian und die "Verhaltenslehren der Kälte" (Lethen)), vom Aufklärer von Knigge ("Über den Umgang mit Menschen") über den Romantiker Schleiermacher ("Theorie des geselliges Betragens") in die Konstitution des Faches Soziologie einwandert: Vor allem über den soziologischen Klassiker Georg Simmel ("Gesellschaft als Geselligkeit") und seiner Sozialtheorie der "Formen" der "Wechselwirkung"; dann bei Helmuth Plessner ("Takt und Diplomatie"), Heinrich Popitz ("Prozesse der Machtbildung") und Erving Goffman ("Wir alle spielen Theater") über die "Rollendebatte" innerfachliche Relevanz gewinnt - bis hin zu Niklas Luhmans Theorie eigenlogisch operierender "symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien" (Geld, Macht, Wahrheit, Liebe etc.) mit ihren je verschiedenen kommunikativen Codes und Anschlussmöglichkeiten, die von den Beteilligten nicht verwechselt werden sollten (Niklas Luhmann). Die historische Rekonstruktion der vorsoziologischen Denktradition der "Sozioprudenz" ist mit zwei weiteren Thesen verbunden: Erstens ist die "Kunst des Umgangs mit Menschen" als Zivilisierungsleistung (zumindest im europäischen neuzeitlichen Kontext der Höfe und Städte) von Frauen induziert, deren kommunikativer Dauerdruck die männlichen Krieger in "Hofleute" verwandelt (Norbert Elias); zweitens erlaubt dieser Blick, eine Geschichte der Soziologie auch aus dem 'Geist der Oberschichten' (seit dem 17. Jahrhundert) zu rekonstruieren - ergänzend zu der konventionellen Herleitung der Soziologie aus der Problemlage unterer Schichten (Lösung der 'sozialen Frage' seit dem 19. Jahrhundert).
(2) Systematisch will das Projekt dieses zerstreute Wissen (das teilweise in andere Disziplinen wie Sozialpsychologie, Kommunikationswissenschaft, Management-Wissen, Public Relations, Psychological Operations, Kulturwissenschaft (Dekonstruktion und Subversion), Sprachwissenschaft (Rhetorik) abgewandert ist) in der Soziologie sammeln und den möglichen Gewinn für die Identität der Soziologie kritisch reflektieren. Wenn 'Jurisprudenz' die akademisch hochgeschulte Kompetenz ist, 'Fälle' entsprechend der gesatzten, geschriebenen Rechtsregeln zu lösen, dann wäre Sozioprudenz die hochgeschulte Kompetenz, komplexe Situationen in der Verschränkung von formalen und informellen Regeln zu verstehen und zu be- bzw. zu verhandeln. Eine fachliche Perspektive ist die Aufmerksamkeitsverschiebung in der Soziologie als Kerndisziplin der Sozial- und Kulturwissenschaften hin zur Kernaufgabe der Hochschulung kultureller und sozialer Intelligenz. Die praktische Relevanz einer so in der "Sozioprudenz"-Tradition akzentuierten spezifischen Wissenschaftsgruppe spiegelt eine tendenziell von Produktion auf Kommunikation (Dienstleistungen, Verrechtlichung, Mediation, intellektuelle Dauerbeobachtung, Medien, interkulturelle Kompetenz, Diplomatie) umgestellte gegenwärtige Gesellschaft.

Lehrveranstaltungen, Vorträge, Publikationen und Blogs

2008

Soziologie als Sozioprudenz. Überlegungen zu einer Neuakzentuierung der Disziplin. Vortrag auf dem Reichenauer Symposion ’Aktuelle Kultursoziologie von der Religion bis zu den Alltagssitten‘, 25.-28.09.2008.

Soziologie als Sozioprudenz. Zur Kunstlehre des Umgangs mit Menschen.Vortrag auf der Tagung: Formen der In-Diskretion, 08-10.10.2008, Universität Konstanz.

2009

Sozioprudenz. Zu einer Neuakzentuierung der Kultur- und Sozialwissenschaften. Vortrag auf Symposium der Universität Bamberg, Institut für Europäische Ethnologie, 24.01.2009.

Vorlesung: Identität der Soziologie (innerhalb Vorlesung Einführung in die Soziologie), („akademische Kunstlehre der Sozioprudenz“). TU Dresden, Institut für Soziologie, WS 2008/09

Hauptseminar: Soziologie als Sozioprudenz. Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Soziologie, WS 2009/10

2010

Soziologie als Sozioprudenz. Vortrag im Forschungskolloquium der Universität Erlangen, Institut für Soziologie, 02.02.2010

Soziologie als Sozioprudenz? Zu einer Neuakzentuierung als Schlüsseldisziplin der Sozial- und Kulturwissenschaften. Vortrag im Graduiertenkolleg ‚ Freunde, Gönner, Getreue‘, Universität Freiburg, 14.07.2010

2011

Masterseminar: Soziologie als Sozioprudenz. Universität Halle-Wittenberg, SoSe 2011

2013

Durkheims Soziologie als Sozioprudenz, in: Tanja Bogusz / Heike Delitz (Hg.): Émile Durkheim - Soziologie, Ethnologie, Philosophie, Frankfurt/M., New York: Campus 2013, S. 95-118.

2014

Vorlesung: Soziologie als Sozioprudenz, TU Dresden, SoSe 2014.

SozBlog der Deutschen Gesellschaft für Soziologie: Soziologie als Sozioprudenz (zus. mit Clemens Albrecht).

2016

Vorlesung: Sozioprudenz. Soziologie als Hochschulung sozialer Intelligenz, TU Dresden, SoSe 2016

2018

Soziologie als "Sozioprudenz": Konzept und Studiengänge (zus. m. Clemens Albrecht), in: Soziologie., 47. Jg., H. 1, 2018, S. 74-83.

2021

Joachim Fischer: Soziologie als "Sozioprudenz". Interview hochgeladen bei Youtube 20.05.2021: https://www.youtube.com/watch?v=ksaSyt2pUZg